Konflikt

Berg-Karabach: Alter Streit führt zu neuem Leid

Martin Alberts und den Agenturen
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Von Martin Alberts und den Agenturen
| 22.10.2020 17:52 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 8 Minuten
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Seit Wochen tobt im Südkaukasus der Kampf um Berg-Karabach. Auch in Ostfriesland setzen sich Armenier für ihre Landsleute in der Konfliktregion ein. Die Lage ist allerdings kompliziert – und der Ausgang des Konflikts ist weiterhin offen.

Leer/Eriwan/Baku - Seit dem 27. September sind im Kampf um die Region Berg-Karabach im Südkaukasus Hunderte Menschen getötet worden. Der Konflikt, der trotz zweier vereinbarter und schnell wieder gebrochener Feuerpausen bereits einige Wochen dauert, ist der jüngste traurige Höhepunkt im Streit zwischen Armenien und Aserbaidschan. Seit Jahrzehnten kämpfen die beiden Ex-Sowjetrepubliken um Berg-Karabach.

In einem Krieg nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor rund 30 Jahren verlor Aserbaidschan die Kontrolle über das Gebiet. Seit 1994 galt eine brüchige Waffenruhe.

Hilfe aus Deutschland für Berg-Karabach

Ein Mann geht an einem Haus in Stepanakert, der Hauptstadt der Region Berg-Karabach, vorbei. Es wurde durch aserbaidschanische Artillerie zerstört. Bild: Uncredited/AP/DPA
Ein Mann geht an einem Haus in Stepanakert, der Hauptstadt der Region Berg-Karabach, vorbei. Es wurde durch aserbaidschanische Artillerie zerstört. Bild: Uncredited/AP/DPA
Mit Sorge blickt Albert Tovmasyan nach Berg-Karabach. Ein ehemaliger Klassenkamerad aus Schulzeiten sei dort kürzlich gestorben, berichtet der Leeraner, der aus Armenien stammt. Tovmas-yan ist äußerst aktiv in der armenischen Gemeinschaft – 2015 sammelte er Spenden, mit deren Hilfe in Leer ein Gedenkstein in Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern 100 Jahre zuvor aufgestellt wurde. Zudem ist er Sprecher der Armenier, die in Ostfriesland leben. „Wir sind hier insgesamt gut 20 Familien“, so Tovmasyan. „Wir halten zusammen.“

Das gelte auch, wenn es darum geht, den Menschen in Berg-Karabach zu helfen: „Wir leben in Leer, uns geht es gut“, sagt Tovmasyan. Nicht nur Armenier aus Ostfriesland, sondern auch aus dem Rest der Republik würden spenden: Betten, Medikamente und andere medizinische Vorräte sollen nach Berg-Karabach geschickt werden, sagt Tovmasyan. Die Diözese der Armenischen Kirche in Deutschland veröffentlichte zu Wochenbeginn einen Spendenaufruf auf ihrer Internetseite.

Befürchtung: Türkei könnte Hilfsgüter nicht durchlassen

Fraglich ist allerdings, ob die Hilfe auch ankommt: „Armenien und Aserbaidschan haben sich verpflichtet, humanitäre Hilfe zu ermöglichen“, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes am vergangenen Wochenende. „Jetzt müssen sie Bedingungen schaffen, die es humanitären Akteuren wie dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes ermöglichen, den vom Konflikt betroffenen Menschen die erforderliche Hilfe zu leisten.“

Tovmasyan sieht für die aus Deutschland versandten Hilfslieferungen aber noch ein weiteres Problem: Die Hilfsgüter müssten über die Türkei, die Aserbaidschan unterstütze, nach Berg-Karabach gelangen. „Wir hoffen, die Beamten dort lassen sie durch“, sagt Tovmasyan.

Gegenseitige Schuldzuweisungen prägen den Konflikt

Seit Beginn der jüngsten Kämpfe sind in der Region Berg-Karabach 834 Soldaten getötet worden, wie die dortigen Behörden am Mittwoch mitteilten. 36 Zivilisten starben demnach auf armenischer Seite. Aserbaidschan machte bislang keine Angaben zu Verlusten bei seinen Streitkräften. Bei armenischen Angriffen seien bis jetzt 63 Zivilisten getötet worden, hieß es am Mittwoch aus der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku.

Geprägt ist der Konflikt bisher von gegenseitigen Schuldzuweisungen: Nachdem eine zweite Feuerpause, die am Wochenende vereinbart worden war, bereits Stunden später wieder gebrochen wurde, warf der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev dem Nachbarland vor, gegen die Waffenruhe verstoßen zu haben. In der Nacht zum Montag habe es Artilleriefeuer auf aserbaidschanische Siedlungen und Stellungen gegeben, schrieb er. Dabei habe es Tote und Verletzte gegeben. Die Behörden in Berg-Karabach machten hingegen Aserbaidschan für Angriffe im Norden und Süden der Konfliktregion – und damit für das Brechen der Feuerpause – verantwortlich. Es seien von armenischer Seite lediglich Maßnahmen ergriffen worden, um den aserbaidschanischen Beschuss „zu unterdrücken“.

Aserbaidschanischer Staatschef will „das Problem Berg-Karabach“ lösen

Schwarzer Rauch steigt nach einem Beschuss über einer Fabrik in der Stadt Tartar auf. Bild: Karimov/AP/DPA
Schwarzer Rauch steigt nach einem Beschuss über einer Fabrik in der Stadt Tartar auf. Bild: Karimov/AP/DPA
Während beide Seiten nach den erneuten Angriffen jeweils die andere beschuldigten, scheint aber klar, welche Seite den Konflikt am 27. September begonnen hat: „Die Aserbaidschaner sind nachts mit Flugzeugen reingekommen“, sagt Tovmasyan. Staatschef Aliyev sagte kurz nach Beginn der Kämpfe Ende September der aserbaidschanischen Agentur „turan.az“ zufolge: „Das Problem Berg-Karabach ist unsere nationale Aufgabe. (...) Die Lösung ist unser historischer Auftrag.“ Zuvor hatte der Präsident den Beginn einer Militäroperation in dem von Armenien kontrollierten Konfliktgebiet erklärt.

Die Armenische Kirche in Deutschland schreibt zum Angriff: „Am frühen Morgen des 27. Septembers 2020 verstießen die aserbaidschanischen Streitkräfte erneut gegen den Waffenstillstand und starteten groß angelegte Militäreinsätze entlang der gesamten aserbaidschanisch-karabachischen Kontaktlinie und bombardierten verschiedene Siedlungen von Berg-Karabach, sogar die Hauptstadt Stepanakert.“

Welche Rolle spielt die Türkei?

Der Konflikt um Berg-Karabach betrifft nicht nur Armenien und Aserbaidschan, sondern darüber hinaus auch andere Staaten wie Russland und die Türkei, die als jeweilige Schutzmächte der beiden Länder gelten. Nach dem Ende der kurzfristigen Feuerpause am Wochenende beschuldigte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Armenien, die Waffenruhe einseitig gebrochen zu haben. Den USA, Russland und Frankreich warf er außerdem vor, Armenien militärisch zu unterstützen. „Sie leisten Armenien und den Armeniern jede Art von Waffenhilfe.“ Die drei Länder vermitteln in dem Konflikt in der Minsk-Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

„Über die Rolle der Türkei beim Bruch der Waffenruhe und der Eskalation des Konflikts brach ein Krieg der Worte aus, der nun mit neuer Kraft geführt wird“, kommentierte die Moskauer Zeitung „Kommersant“ am Montag. Tovmasyan sieht eine Mitschuld bei der türkischen Regierung: Er sehe im aserbaidschanischen Präsidenten Aliyev eine Marionette Erdogans, sagt der Leeraner, der überzeugt ist: „So lange die Türkei keine Ruhe gibt, gibt Baku keine Ruhe.“

Aserbaidschan führe mithilfe des Nato-Mitglieds Türkei einen Angriffskrieg gegen Karabach, sagte der armenische Präsident Armen Sarkissjan. Armenien hatte zuletzt immer wieder davon gesprochen, dass nach Angriffen Nato-Munition gefunden worden sei. Eine offizielle Bestätigung für eine Beteiligung der Türkei an den Kämpfen gibt es aber nicht.

Ein Konflikt mit langer Geschichte

Der Streit um die Region Berg-Karabach reicht lange zurück: Bereits im 4. und 5. Jahrhundert habe das Gebiet eine Christianisierung erfahren, schreibt die Islamwissenschaftlerin Eva-Maria Auch in ihrer Arbeit „‚Ewiges Feuer‘ in Aserbaidschan“. Ab dem 18. Jahrhundert habe die Rivalität von Russland, Persien und dem Osmanischen Reich die Region bestimmt. Persien habe den Druck auf die Christen in Berg-Karabach – der Name stamme aus dem Türkischen und bedeute „schwarzer Garten“ – erhöht, bis die Region Anfang des 19. Jahrhunderts unter russische Herrschaft gelangt sei. Eine erneute Einwanderungswelle von christlichen Armeniern sei die Folge gewesen.

Der britische Journalist Thomas de Waal sieht die Ursache für den Konflikt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie er in seinem Buch „Black Garden“ schreibt: Während dieser Zeit, als sowohl das Osmanische als auch das Russische Reich sich ihrem Ende näherten, hätten Armenien und Aserbaidschan ihr nationales Selbstverständnis entwickelt. Die Armenier hätten sich von Unabhängigkeitsbewegungen in Osteuropa inspirieren lassen, die Aserbaidschaner hingegen die Nähe zur Türkei gesucht, schreibt de Waal. Beschleunigt worden sei dieser Prozess durch den Genozid von 1915, bei dem im Osmanischen Reich bis zu 1,5 Millionen christliche Armenier getötet wurden. Armenien sei hierdurch zu einem Zielland für Flüchtlinge geworden. Die genauen Ursachen dafür, dass der Konflikt anhielt und mit dem nahenden Ende der Sowjetunion ab 1988 erneut eskalierte, sind schwierig zu fassen. Eva-Maria Auch meint gar: „Die Vielschichtigkeit der Hintergründe armenisch-aserbaidschanischer Feindschaft aufzuklären, ist unmöglich.“

Eine Region mit umstrittenen Status

Nach dem Ende der bis zu diesem Jahr letzten großen Konflikte 1994 gründete sich die Republik Berg-Karabach, die seit 2017 den armenischen Namen Arzach trägt, aber von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt wird. Sowohl die Vereinten Nationen als auch der Europarat rechnen die Region dem Staatsgebiet Aserbaidschans zu. Die Führung in Baku wirft Armenien vor, völkerrechtswidrig aserbaidschanisches Gebiet besetzt zu halten. Und auch das Auswärtige Amt in Berlin macht in ihrer Reisewarnung deutlich: „Die sogenannte ‚Republik Berg-Karabach‘ wird völkerrechtlich von Deutschland nicht anerkannt.“

Dem widerspricht die Deutsch-Armenische Juristenvereinigung in einem Bericht zur aktuellen Rechtslage, der unserer Redaktion vorliegt: Es werde außer Acht gelassen, „dass während des Gipfeltreffens von Lissabon am 2. Dezember 1996 der Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker in die Verhandlungen für die Republik Arzach eingeführt wurde“, heißt es darin. Die Vereinigung kritisiert die aggressive Politik des aserbaidschanischen Staatschefs Aliyev: „Eine Gewährleistung der Sicherheit der Bevölkerung Arzachs kann demnach nur durch Anerkennung der Republik Arzach als vollwertiges Subjekt der internationalen Gemeinschaft sichergestellt werden.“

Auch für Tovmasyan ist die Lage klar: Berg-Karabach beziehungsweise Arzach sei „ein Land für uns“, sagt der Armenier aus Leer. „Wir kämpfen für unsere Erde, für unser Land.“

Wie geht es im Kampf um Berg-Karabach weiter?

Der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan rief sein Volk an die Waffen. Weil Aserbaidschan nichts anderes als eine Kapitulation Berg-Karabachs akzeptiere, müsse jetzt mit aller Kraft gekämpft werden. Aliyev zeigte sich grundsätzlich zu Gesprächen mit Paschinjan bereit. Natürlich sei ein Treffen möglich, sagte er am Donnerstag der japanischen Tageszeitung „Nikkei“. Zugleich dämpfte er aber die Erwartungen: „Mit dieser armenischen Regierung ist die Aussicht auf eine friedliche Lösung leider sehr gering.“ Aliyev schloss ein Referendum zur Zugehörigkeit der umkämpften Region Berg-Karabach aber aus.

„Jetzt gilt es, dass Armenien und Aserbaidschan unverzüglich auf den Pfad für eine friedliche und dauerhafte Konfliktlösung zurückkehren, auf der Grundlage der Grundprinzipien der Konfliktregelung“, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes am Wochenende. Wann und ob dies den beiden Konfliktparteien gelingen kann, ist jedoch offen.

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