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Leerer oder Leeraner – das ist hier die Frage

Nikola Nording
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Von Nikola Nording
| 09.10.2020 00:00 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 4 Minuten
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In Leer geht es oft zu wie in der Schule. Leerer oder Leeraner – das ist hier die Frage: Nikola Nording beantwortet es – nicht ganz ernst gemeint. Eine Glosse.

Es wäre die Horrorvorstellung eines jeden Schülers: eine Stadt mit 35 000 Lehrern. Das hat man in Leer schnell erkannt und sich – auch um die Touristen nicht zu verschrecken – für die Bezeichnung „Leeraner“ entschieden.

Doch die Touristen aus München, Hamburg oder Dortmund wollen das einfach nicht akzeptieren. Und so werden die Leeraner gern von Besuchern gefragt: „Und Sie sind Leerer?“ Die meisten sind es nicht. Doch wer die Menschen in der südlichsten Kreisstadt Ostfrieslands ein wenig näher kennenlernt, kann aus dem Leben in der Stadt einige Parallelen zum Schulalltag ziehen.

Was die infrastrukturelle Anbindung betrifft, ist die Stadt an der Ems der ostfriesische Klassenprimus. Es gibt kein Fortbewegungsmittel, das in Leer keine Anbindung findet. Mit dem Zug kann man zum Beispiel ohne Probleme quer durch Deutschland reisen. Bis München gab es sogar für kurze Zeit einen ICE, allerdings nur im Sommer und vielleicht im nächsten Jahr gar nicht mehr. Ob ICE oder ECE – in Leer hat man damit einfach kein Glück. Das ECE-Einkaufszentrum sollte ja auch irgendwie die Innenstadt anbinden. Vorweisen kann die Stadt dagegen einen eigenen Flugplatz, und auch Kreuzfahrtschiffe fahren regelmäßig an der Kreisstadt vorbei. Alles in einer Stadt, alles über nur drei Straßen erreichbar: In Leer kann man es sich aussuchen, ob man in der Haupt-, in der Heisfelder- oder auf der Papenburger Straße im Stau stehen möchte.

Einzelhandel ist der Coolste in der Klasse

Glücklicherweise hat man in der Politik seine Hausaufgaben gemacht und erkannt, dass die Zukunft in der Leeraner Infrastruktur im Fahrrad liegt. Das merkt man nicht an den buckeligen Fahrradwegen. Stattdessen soll die Innenstadt umgebaut werden, um sie fahrradfreundlicher zu gestalten – ein bisschen. So, dass es ins Budget passt und am besten, wenn es auch dem Einzelhandel genehm ist.

Ja, in Leer ist der Einzelhandel der Coolste in der Klasse. Er ist quasi die vierte Gewalt: Exekutive, Legislative, Judikative und die Lefferslative. Die Geschäfte in der Innenstadt locken jährlich Tausende willige Einkäufer nach Leer. Tag und Stunde spielen da keine Rolle: Verkaufsoffene Sonntage oder Mitternachtsshopping würden noch häufiger veranstaltet, würde nicht Verdi ab und zu Dissonanzen anstimmen. Meistens ist dann erst recht Musik in der Stadt. Wer in der Innenstadt noch nicht fündig wurde, für den gibt es multiple andere Möglichkeiten.

Bäume haben es schwer in Leer

In den Pausen erholen sich die Leeraner gern im Grünen. Möglichkeiten gibt es genug: So kann man zwischen dem Evenburgpark, dem Julianenpark und dem Philippsburger Park wählen, oder sich im Labyrinth des Westerhammrichs verirren. Dort kann auch der Biologieunterricht aufgenommen werden: Der Bestimmung von Wildtieren kann nachgegangen werden oder dem Studium des entblößten menschlichen Körpers – ob man will oder nicht.

Die Parks weisen eine Vielzahl von Bäumen auf. Dort stehen die stillen Riesen ja auch sehr sicher. In anderen Bereichen der Stadt ist das anders. Baum zu sein in Leer ist schwer. Einmal am falschen Platz und schon wird an einem gesägt. Und es gibt dann immer einen, der sagt: „Oh, da haben wir aber wohl nicht richtig aufgepasst.“

Gestritten wird immer

An das Spielchen Rathaus gegen Rat haben sich die Bürger fast gewöhnt. Dabei macht es fast keinen Unterschied, wer gerade als Rektor im Rathaus sitzt. Gestritten wird immer. Als Leeraner fragt man sich allerdings manchmal schon, wie viele Eskalationsstufen bis zur ersehnten Hochschulreife man noch erklimmen muss. Schaut man in den Leistungskurs Stadt-Politik, sind es viele, viele Jahre. Selbst dann ist bei dem ein oder der anderen ein Ende nicht in Sicht. Wer unter 30 Jahren Teilnahme den Leistungskursus verlässt, kann offenbar seinen Abschluss vergessen. Ein Mittel zum besseren Abschneiden ist übrigens, möglichst viele Referate zu halten.

Wer doch mit Leer abschließt und in die weite Welt zieht, bleibt erfahrungsgemäß entweder nicht lang weg oder erlangt wahre Berühmtheit. Leeraner Klassenmitglieder sind zum Beispiel politische Größen wie Ernst Reuter. Er war langjähriger Oberbürgermeister von Berlin während der Berliner Blockade und wuchs in Leer auf. Auch künstlerisch machten sie sich einen Namen, wie der in Leer geborene Sänger Enno Bunger oder Karl Dall, der hier seine Jugend verbrachte, zeigen.

Ein Sohn der Stadt stellt die anderen allerdings in den Schatten: Nur einer erkannte, was die wirklich wichtige Frage in Leer und Ostfriesland ist. Und nur er erklärte sie ganz Deutschland, Europa, wahrscheinlich sogar der ganzen Welt. Denn nur ein sehr blonder Mann namens Hans-Peter Gerdes, der sich H.P. Baxxter nennt, fragte mit seiner Musik-Combo Scooter: „How much is the fish?“

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