70 Jahre OZ

Wie Ostfriesland ein Zentrum der Reformation wurde

Michael Hillebrand
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Von Michael Hillebrand
| 09.10.2020 00:00 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 4 Minuten
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Für die Verbreitung des evangelischen Glaubens spielte Ostfriesland eine der zentralsten Rollen in Europa. Gerade Emden profitierte davon auch wirtschaftlich. Heute ist die Lage zwar eine andere: Spuren der Blütezeit findet man aber noch immer.

Ostfriesland - Als 1520 in Emden der erste protestantische Gottesdienst gefeiert wurde, war es erst drei Jahre her, dass Martin Luther seine 95 Thesen an die Wittenberger Schlosskirche geschlagen haben soll. Emden – und auch die weiteren Teile von Ostfriesland – zählten aber nicht nur zu den ersten evangelischen Hochburgen, sondern auch zu den wichtigsten. Das betonen auf Nachfrage unserer Redaktion Dr. Klaas-Dieter Voß (Stiftung der Emder Johannes-a-Lasco-Bibliothek) und Andreas Scheepker (Auricher Arbeitsstelle für Evangelische Religionspädagogik Ostfriesland).

Laut dem Kirchenhistoriker Voß hängt das mit den Eigenheiten des Ostfriesischen Landrechts beziehungsweise des Friesischen Rechts zusammen: Die Region sei liberaler als andere gewesen. So fanden in Emden beispielsweise viele Protestanten Zuflucht, denen in den von den katholischen Habsburgern regierten Teilen der Niederlande der Tod drohte. Außer ihnen kamen aber auch Menschen aus Brabant, Flandern oder Frankreich.

Flüchtlinge sorgen für wirtschaftliche Blütezeit

Als Maria Tudor, Beiname „die Blutige“, 1553 Königin von England wurde, sei dann noch ein weiterer Flüchtlingsstrom aus London dazugekommen. Darunter seien viele Buchdrucker, Korn- und Tuchhändler gewesen, die ein internationales Handelsnetz aufbauten. „Emden wurde dadurch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einer der größten Handelszentren Europas und war für seinen Reichtum bekannt“, weiß der Theologe. Pastor Scheepker ergänzt: „Hier wirkten sehr angesehene Theologen mit weiter Ausstrahlung.“ Das habe auch zum Ausbau des Schulwesens und zur Gründung der Diakonie geführt.

Aus der anfänglichen Glaubens-Toleranz seien jedoch im Laufe der Jahre immer mehr Spannungen erwachsen, sagt Voß. Ab 1561 habe es dann in Ostfriesland plötzlich nicht mehr einen, sondern zwei Grafen gegeben: den reformierten Johann II. mit Sitz in Emden und seinen lutherischen Bruder Edzard II. mit Sitz in Aurich. Das habe zu den bis heute existierenden geografischen Grenzen zwischen Reformierten und Lutheranern in Ostfriesland geführt. Laut Scheepker sind so vor allem die Krummhörn, Emden, Leer, das Rheiderland sowie Teile des Moormerlandes und des Overledingerlandes reformiert und Norden, Aurich, der Osten des Landkreises Leer und das Harlingerland lutherisch geprägt worden.

Mehr als 50 Glaubensgemeinschaften

Zur Entspannung dieser konfessionellen Gräben trugen erst die Emder Konkordate von 1599 bei, so Voß. Durch diesen Vertrag seien in Ostfriesland sowohl der reformierte als auch der lutherische Glaube gleichberechtigt anerkannt worden. Erst etwa 100 Jahre später existierten dann auch innerhalb derselben Städte sowohl reformierte als auch lutherische Gemeinden. Damit zufrieden waren laut Voß aber noch lange nicht alle. „Sogar als nach dem Zweiten Weltkrieg lutherische Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten nach Ostfriesland kamen, führte das im rheiderländischen Weener und Bunde noch zu Problemen.“

Die Geschichte des Protestantismus in Ostfriesland hinterlässt aber auch heute noch ihre Spuren. So sind von den im Laufe der Jahrhunderte mehr als 50 Glaubensgemeinschaften in Ostfriesland noch immer einige zu finden, wie beispielsweise die Mennoniten oder die im 19 Jahrhundert dazugekommenen Freikirchen wie die Altreformierten, Baptisten, Methodisten und Herrnhuter. Und was sind die Unterschiede dieser Gruppen zueinander? „Sie orientieren sich vor allem am Verständnis der Sakramente, der Kirche und der Bedeutung des persönlichen Glaubens“, so Scheepker.

Regionalbischof Klahr: Leben von der Attraktivität Ostfrieslands

Erlebte der Protestantismus in Ostfriesland früher noch eine Blütezeit, nimmt die Zahl der Gläubigen inzwischen aber immer weiter ab. Da nützt es auch nichts, dass Emden im Jahr 2013 der Titel „Reformationsstadt Europas“ verliehen wurde. Regionalbischof Dr. Detlef Klahr ist dennoch nicht verzagt, wie er in einer Antwort an unsere Zeitung betont. So spielten kirchliche Einrichtungen wie die Diakonie noch immer eine wichtige Rolle. Dazu kämen die kirchliche Seelsorge, die Kinder-, Kranken- und Altenbetreuung.

Was den allgemein zunehmenden Mangel an Geistlichen angeht, profitiere man in Ostfriesland davon, dass die Region attraktiv ist. „Freiwerdende Stellen können in der Regel zeitnah nachbesetzt werden.“ Auch was die Gemeindemitglieder angeht, könne man in Ostfriesland noch von einer vergleichsweise „großen Treue“ sprechen. Was wegbrechende Einnahmen angeht, spiele wie schon in früheren Zeiten der vorhandene Grundbesitz der Gemeinden eine wichtige Rolle: „Ein Grundprinzip der kirchlichen Haushaltung war immer, aus eigenen Kräften und eigenen Mitteln das Gemeindeleben zu finanzieren.“

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