70 Jahre OZ

Warum Ostfriesland stärker denn je für Krisen gewappnet ist

Martin Teschke
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Von Martin Teschke
| 09.10.2020 00:00 Uhr | 1 Kommentar | Lesedauer: ca. 5 Minuten
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Krisen-Szenarien über die ostfriesische Wirtschaft gibt es zuhauf: VW, Enercon, Meyer-Werft – die Vorzeigeunternehmen stehen vor großen Herausforderungen. Dabei hat die Region unglaubliche Potenziale.

Ostfriesland - Der Fortschritt Ostfrieslands hängt immer auch an einzelnen Menschen, meint Dr. Torsten Slink. Stets gehe es um großartige Ideen, um mutige Entscheidungen und um geschickte Strukturveränderungen. Paradebeispiel ist für den Hauptgeschäftsführer der ostfriesischen Industrie- und Handelskammer (IHK) der Unternehmer Aloys Wobben.

Autostandort: Volkswagen in Emden. Bild: Ortgies
Autostandort: Volkswagen in Emden. Bild: Ortgies
„Damals, Mitte der 80er Jahre, war Ostfriesland das Armenhaus Westdeutschlands“, sagt Slink. Die Arbeitslosenquote habe bei 20 bis 25 Prozent gelegen. Wenig Industrie, der Tourismus noch in den Anfängen, eine starke landwirtschaftliche Prägung. Mit der Gründung von Enercon durch Aloys Wobben im Jahr 1984 habe ein großer Strukturwandel eingesetzt – hin zur Konzentration auf erneuerbare Energien. Das treibt Ostfriesland bis heute an. Ein bisschen Glück und eine passende geografische Lage mögen sicher auch eine Rolle spielen.

Der erste Strukturwandel

Eine hohe Arbeitslosenquote war auch Mitte der 80er Jahre für Ostfriesland nichts Neues. Bereits 1950 lag die Quote im Bezirk Emden bei mehr als 23 Prozent, im Bezirk Leer waren es gut 20 Prozent. Mit der Eröffnung des VW-Werks in Emden 1964 wurden dann in kürzester Zeit tausende Arbeitsplätze geschaffen – der erste große Strukturwandel nach dem Krieg. Zahlreiche Zulieferer siedelten sich an, die ganze Region profitierte und profitiert.

Werft-Standort: Meyer in Papenburg. Bild: Ortgies
Werft-Standort: Meyer in Papenburg. Bild: Ortgies
Heute steht das VW-Werk Emden genau wie alle anderen Automobilproduktionsstätten des Globus‘ erneut vor einer riesigen Herausforderung: den Anschluss nicht zu verlieren zur Mobilität der Zukunft mit Hilfe von erneuerbaren Energien. Volkswagen investiert allein in den Standort Emden rund eine Milliarde Euro. Das macht Mut. Was aber für den Konzern selbst gilt, trifft auch die vielfältige Zuliefererbranche. Hier wird aktuell an zahlreichen Stellschrauben gedreht, um die mittelständischen Unternehmen auf die Reise mitzunehmen. Nicht alle werden es wohl schaffen. Dafür dürften neue Unternehmungen entstehen.

Breites Fundament

Tourismus-Standort: etwa in Norddeich. Bild: Ortgies
Tourismus-Standort: etwa in Norddeich. Bild: Ortgies
„Das ist der Vorteil von Ostfriesland“, sagt IHK-Hauptgeschäftsführer Slink. „Wir sind sehr breit aufgestellt – viel, viel breiter als Mitte der 80er Jahre.“

Diese Feststellung gilt wohl nicht zuletzt für die Tourismusbranche. Zwar leidet besonders das Hinterland aktuell unter der Corona-Krise. Dafür zählen aber die Küste und die Inseln zu den stärksten Tourismusgebieten Niedersachsens und sogar Deutschlands. Mehr als 15 Millionen Gäste besuchten 2019 Niedersachsen. In Ostfriesland hängen 50 000 Arbeitsplätze an der Branche. Das dürfte mit der Pandemie auch noch einige Zeit so bleiben. Erst vor Kurzem hat das Landeswirtschaftsministerium mehrere Millionen Euro in den örtlichen Tourismus investiert. „Eigentlich fehlen hier nur noch ein paar Berge und Skilifte“, scherzt Slink. Dabei sind Investitionen in die Infrastruktur stets eine wichtige Begleiterscheinung der wirtschaftlichen Entwicklung der Region gewesen. Schon in den 50er Jahren wurde die Verbesserung der Landes- und Bundesstraßen angeschoben. In den Achtzigern begannen dann erste Verhandlungen zum Lückenschluss der A 31. Im Jahr 2004 wurde das letzte Teilstück fertiggestellt, mit dem die A 31 das Ruhrgebiet und die Nordsee verbindet.

Vertrauen in die Kehrtwende

Landwirtschaft: Grünland und Viehhaltung. Bild: Ortgies
Landwirtschaft: Grünland und Viehhaltung. Bild: Ortgies
Von der guten Infrastruktur und natürlich der geografischen Lage profitiert auch die Meyer-Werft im emsländischen Papenburg – wo immerhin etwa die Hälfte der Mitarbeiter aus Ostfriesland kommt. „Die Meyer-Werft ist technologisch weit vorn – gerade auch bei neuen umweltfreundlichen Antrieben“, sagt Slink. „Umso dramatischer ist jetzt die Krise. Aber dafür kann die Werft ja nichts.“ In Papenburg geht es jetzt darum, Arbeitsplätze zu sichern – und vor allem darum, den Werftenstandort zu retten. Bei den von der Geschäftsführung eingeforderten Einsparungen in Höhe von mehr als 1,2 Milliarden Euro dürfte wohl nicht jeder Job gerettet werden. Aber auch dann wäre Meyer immer noch einer der großen Arbeitgeber der Region.

Genau wie Enercon: Jene Unternehmen, die jetzt noch am Windenergieanlagenbauer in Aurich hängen, hoffen allesamt auf die erfolgreiche Kehrtwende des Pilotunternehmens Enercon. Dann bliebe Ostfriesland Vorreiter in der Onshore-Energie. Bei der Diskussion über die Windenergie an Land wird in der Region allerdings häufig die mindestens genauso erfolgreiche Offshore-Energie vergessen. Auch davon profitieren Unternehmen in Ostfriesland. Das liegt, wie IHK-Mann Slink sagen würde, eben auch an der breiten Aufstellung der Wirtschaft.

Erneuerung auf Ostfriesisch

Ein Blick auf die Fortschrittsbranchen Ostfrieslands wäre wohl unvollständig, bliebe die Landwirtschaft unerwähnt. Über den Einsatz neuer Technologien wird hier ebenso diskutiert wie die Wechselwirkung von Landwirtschaft und Klimawandel – wobei die Betonung hier auf Wechselwirkung liegt. Keine Berufsgruppe ist sich der Bedeutung des Klimas wohl so bewusst wie die Bauernschaft. Auch das wird in aktuellen Wortgefechten gern einmal vergessen. Gerade in Ostfriesland stehen die Landwirte nun durch neue Ideen zum Gewässerschutz mächtig unter Druck. Der Strukturwandel ist also auch hier in vollem Gang.

Aber was bedeutet überhaupt Strukturwandel auf Ostfriesisch? „Strukturwandel klingt immer so, als müsste sich jetzt sofort alles total ändern“, sagt Slink von der IHK. „Das stimmt doch so nicht.“ Anders ausgedrückt: In Ostfriesland wird auch künftig Strom erzeugt, es werden Autos gebaut, Schiffe hergestellt, Urlaubsgäste empfangen – und ja, auch viele, viele Kühe (160 000 sollen es derzeit sein) werden weiterhin die Landschaft prägen.

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