Aurich

Auricher kommentieren das Grundgesetz

Imke Oltmanns
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Von Imke Oltmanns
| 23.05.2019 09:00 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 9 Minuten
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Das deutsche Grundgesetz hat genullt: Was halten die Bürger von ihrem Grundgesetz? Einige Auricher machten sich Gedanken zu seinem 70. Geburtstag.

Das deutsche Grundgesetz wird heute 70 Jahre alt – ein Geburtstag, der vielerorts vor allem von der Politik gefeiert wird. Aber wie stehen die Bürger dazu? Welche Bedeutung hat es für sie? Und welche Artikel finden sie überhaupt wichtig? Die OZ hat einige Bürger aus dem Landkreis Aurich um ihre Meinung gebeten. Bei freier Artikelwahl.

Heinz-Dieter Mündel, ehemaliger Richter am Landgericht Aurich:

Heinz-Dieter Mündel
Heinz-Dieter Mündel
„Geht die Sonne auf im Westen, musst Du Deinen Kompass testen! Als das Grundgesetz wenige Tage nach dem Ende der Berlinblockade (Luftbrücke) in Kraft trat, gab es mich noch nicht. Ich wurde erst, als das Grundgesetz schon drei war, in der damaligen Ostzone geboren, musste als Kleinkind „Republikflucht“ begehen, um in den unmittelbaren Geltungsbereich des Grundgesetzes zu kommen, und konnte den Kompass-Test erst als Erwachsener machen. Das Grundgesetz indessen hatte mich schon als Kleinkind im Blick, hatte es doch in seiner Präambel (historischer Wortlaut) bereits 40 Jahre vor dem Mauerfall auf die Wiedervereinigung abgezielt. Gerade in diesem Wiedervereinigungsgebot zeigt sich eine Weitsicht und Grundsätzlichkeit, die man bei dem modernen Gesetzgeber oft vermisst.

Der Wert des Grundgesetzes

Was ist nun für mich der besondere Wert des GG? Abgesehen von dem nur etwa alle 20 Jahre zu Zeiten der Fußballweltmeisterschaft prominenten Art. 22 Abs. 2 GG (lesen!), ganz sicher der Art. 26 Abs. 1 GG, der den Angriffskrieg verbietet. Das kann man dort, von wo in gut 100 Jahren zwei Weltkriege angezettelt worden sind, nicht wichtig genug machen.

Welch ein unsagbares Glück ist es für meine Generation, nie am eigenen Leibe Krieg erlebt zu haben, denkt man an die Erzählungen von Mutter, Vater, Oma und Opa! Propaganda und Erfindungsreichtum von Machthabern aller Art haben aber immer schon versucht, sich ihre Wahrheit zurechtzuzimmern (Sender Gleiwitz; „seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen“). Deshalb sind die Gewaltenteilung, eine staatliche Macht kontrollierende, funktionsfähige Justiz (Art. 19 Abs. 4 und Art. 92 - 104 GG und eine freie Presse (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG), unabdingbar, vom Grundgesetz allerdings bereits berücksichtigt und eingerichtet.

Wachsam bleiben

Wachsamkeit muss dennoch stets und von allen gefordert werden, besonders von der Presse, damit Fehlentwicklungen erkannt, benannt und bekämpft werden können.

Der größte reale Feind des GG ist nach meinem Eindruck der Zeitgeist. Denn er ist imstande, das GG zu ändern, ohne von einer nachprüfbaren, verfassungsändernden Mehrheit getragen zu werden. Da wird schnell mal aktuelle Willkür akzeptiert, um unter dem Deckmantel vorgeblichen Verfassungsrechts selbstgebastelten Vorstellungen Geltung zu verschaffen.

Alles in allem: Kompass-Test bestanden; das Grundgesetz gehört ordentlich gefeiert!

Der Artikel 5 des Grundgesetzes bewegt offenbar viele Menschen. Drei unserer sieben Kommentatoren entschieden sich für ihn. Er lautet: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“

Stephan Zwerg, Leiter der Polizeiinspektion Aurich/Wittmund

Stephan Zwerg
Stephan Zwerg
, kommentiert das so:

„Artikel 5 des Grundgesetzes gibt jedem das Recht, seine Meinung frei zu äußern und sich auch ungehindert informieren zu dürfen. Vielleicht ist es für uns selbstverständlich geworden, im täglichen Leben davon Gebrauch zu machen. Jedoch sollten wir nicht verkennen, dass es in vielen Staaten noch immer deutliche Einschränkungen dieser Rechte gibt. Sei es durch Begrenzung des Internets, der Druck- und Online-Medien, Inhaftierung von Journalisten oder die Verfolgung von Menschen, die eine abweichende politische Meinung haben.

Internet und Grundgesetz

Es ist wenig wahrscheinlich, dass die Gründungsmitglieder unseres Grundgesetzes die Entwicklung eines Internets und ihre Folgen für die Meinungs- und Informationsverbreitung vorhersehen konnten. Umso bemerkenswerter ist es, dass dieser 70 Jahre alte Artikel in seiner Bedeutung wichtiger denn je ist. Dieser Artikel enthält aber nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten und die Erwartung, mit diesem Recht verantwortungsvoll umzugehen. Auch dieses hat man 1949 bedacht und die Schranken der allgemeinen Gesetze und der persönlichen Ehre mit eingeführt. Daran mögen sich alle orientieren, die in den sozialen Medien mit Hasskommentaren, Verunglimpfungen oder gezielten Falschinformationen anderen Menschen schaden wollen.

Aber auch in der politischen Auseinandersetzung oder gesellschaftlichen Diskussionen bis hin zu TV-Sendungen kann es angebracht sein, sich an diesen großartigen Artikel des Grundgesetzes zu erinnern und den Andersdenkenden Argumente und Lösungen anzubieten, anstatt sie zu diffamieren. Für alle die, denen das schwer fällt, hat Artikel 5 des Grundgesetzes aber auch eine Lösung: Das Recht der freien Meinungsäußerung beinhaltet grundsätzlich auch die Freiheit, sich nicht zu äußern !“

Der Unternehmer Thomas Ihnen

Thomas Ihnen
Thomas Ihnen
kommentiert diesen Artikel so: „Für mich ist der Artikel 5, die Meinungsfreiheit, von herausragender Bedeutung. Er ist die Keimzelle für Frieden, Freiheit, Demokratie sowie für gesellschaftliche und wirtschaftliche Stabilität. Das Grundgesetz und besonders die freie Meinungsäußerung tragen wesentlich dazu bei, immer wieder aufkeimende politische Extreme wirkungsvoll zu bekämpfen. Die grausamen, menschenverachtenden und menschenunwürdigen Vorgänge der Nazi- und DDR-Zeit sollten uns in mahnender Erinnerung bleiben.

Vorsicht: Wach bleiben!

Es ist unbedingt ratsam, weiter „wach“ zu bleiben. Die spürbaren Manipulationsversuche zu unserem Grundgesetz nehmen zu. Nichts ist selbstverständlich, daher: achtsam sein, genau hinschauen und hinhören. Das Grundgesetz mit all seinen Inhalten ist es wert, verteidigt zu werden - zum Wohle der Bevölkerung.“

Aseel Alhafez

Aseel Alhafez
Aseel Alhafez
hat erst kürzlich Bekanntschaft mit dem Grundgesetz gemacht, in einem Integrationskurs der Kreisvolkshochschule. Alhafez kam als Flüchtling aus Syrien nach Aurich.

„Die Meinungsfreiheit, wie sie in Artikel 5 des Grundgesetzes verankert ist, ist für mich wichtig, weil ich mich in meiner Heimat Syrien nicht so frei äußern durfte. Die Meinungsfreiheit wird unterdrückt, es gibt keine Presse- und Medienfreiheit.

Angst ums eigene Leben

Man kann sich nicht kritisch über Politik äußern, weil es gefährlich für das eigene Leben wäre. Nicht alle Menschen haben die Möglichkeit, auf das Internet zuzugreifen, dafür muss teure Software installiert sein.

Ich habe mich sehr wohl gefühlt, als ich nach Deutschland kam. Hier darf ich meine Meinung frei sagen, ohne Angst zu haben. In Syrien war es bis 2010 nicht erlaubt, soziale Medien im Internet zu nutzen. Ich bin seit drei Jahren in Deutschland und noch nie habe ich gehört, dass hier jemand wegen seiner Meinung verfolgt wurde.“

Der Arzt Bernd Zemke

Bernd Zemke
Bernd Zemke
hat sich Artikel 38 ausgesucht: Er lautet: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

Zemkes Kommentar: „Als problematisch empfinde ich die zunehmende „Politikverdrossenheit“ in Teilen der bundesdeutschen Bevölkerung , unter anderem ablesbar an der im Laufe der Zeit abnehmenden Wahlbeteiligung. Durch die Teilnahme an der Wahl besteht für den Einzelnen, wenn auch nur in geringem Umfang, die Möglichkeit der Einflussnahme an dem politischen Geschehen. Auch der geringe Anteil an Frauen (ca. 30 Prozent), und der überproportionale Anteil an Juristen und Beamten im Bundestag bedürfen der besonderen Beachtung.

Digitalisierung und Grundgesetz

Leider finden sich derzeit keinerlei Aussagen zur Digitalisierung im Grundgesetz, auch hier sehe ich einen gewissen Korrekturbedarf. Erwähnenswert scheint mir auch die Feststellung, dass durch das Grundgesetz und die damit verbundene Gründung der Bundesrepublik sicherlich die Teilung Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg vorangetrieben wurde, aber zum Glück ist diese Teilung ja nunmehr seit fast 30 Jahren Geschichte!

Insgesamt sind die Auswirkungen des Grundgesetzes jedoch als sehr positiv zu bewerten, bieten diese doch dem Einzelnen viele Möglichkeiten der individuellen Entfaltung.“

Rico Mecklenburg, Präsident der Ostfriesischen Landschaft

Rico Mecklenburg (ganz rechts)
Rico Mecklenburg (ganz rechts)
geht auf Artikel 8 ein, er lautet: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“

Sein Kommentar: „Die Versammlungsfreiheit halte ich für einen elementarischen Bestandteil der Demokratie. Für eine Willensbekundung und Willensbildung ist dieses Recht unverzichtbar, auch wenn sich im einzelnen populistische und nationalistische Strömungen dieses Rechts bedienen. So etwas muss eine stabile Demokratie aushalten.

Fridays for Future

Optimistisch stimmt mich, dass sich mit der „Fridays-for-Future“-Bewegung überwiegend junge Menschen Gehör verschaffen. Eine Generation, der schon Desinteresse für Politik nachgesagt wurde, meldet sich zu Wort, um auf die drastischen Gefahren des Klimawandels hinzuweisen und für schnellere Abhilfe zu demonstrieren.

Ein wichtiger und wirksamer Weckruf für die Politik. Auch gegen den aufkeimenden Nationalismus, Rechtsextremismus und Populismus in Deutschland und Europa nutzen vermehrt Menschen Kundgebungen und Demonstrationen für Frieden, Menschenwürde, Toleranz und Freiheit. Sie zeigen Gesicht und mischen sich ein – großartig!“

Pastorin Elske Oltmanns

Elske Oltmanns
Elske Oltmanns
hat sich Artikel 1 vorgenommen, die Grundlage für alles weitere: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Ihr Kommentar: „Siebzig Jahre ist unser Grundgesetz nun alt. Und diese Zahl fällt zusammen mit: hundert Jahre Weimarer Reichsverfassung, hundert Jahre Völkerbund und siebzig Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.

Das sind für uns alle wichtige Daten, die bedeutende Fortschritte in der Bindung von Staaten an ein verfasstes Recht markieren.“ Oltmanns zitiert den ganzen Artikel: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

Verweis auf Landeskirche

Dazu schreibt die Pastorin: „Ich bin froh, in einem Land zu leben, in dem die Würde des Menschen garantiert wird. Auch unsere Landeskirche hat sich eine Verfassung gegeben und da heißt es unter anderem: „Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers erkennt eine staatliche Ordnung als Voraussetzung für ein friedliches, gerechtes und die Schöpfung bewahrendes Zusammenleben in einer offenen und solidarischen Gesellschaft an. Einer solchen Ordnung entspricht ein auf der Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte gründender freiheitlicher, demokratischer und sozialer Rechtsstaat, dessen Verfassung die Religionsfreiheit, die Trennung von Kirche und Staat und das kirchliche Selbstbestimmungsrecht gewährleistet...als Christinnen und Christen übernehmen ihre Mitglieder Mitverantwortung für die Gestaltung des demokratischen Gemeinwesens.“ Eigentlich ist damit alles gesagt! An uns liegt es, diese Worte mit Leben zu füllen und darauf zu achten, dass jeder die der unantastbaren Menschenwürde ernst nimmt. Schließlich sind wir alle von Gott geliebte Geschöpfe!“

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