Berlin (dpa)

Corona in der „chronischen Phase“ - Was wird dann wichtig?

| 16.06.2021 04:06 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 4 Minuten
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Ein globales Überwachungssystem, angepasste Impfstoffe zur Auffrischung - das sind wichtige Faktoren im weiteren Umgang mit Corona. Doch an erster Stelle sollte eine andere Maßnahme stehen, sagen Experten.

Das Coronavirus Sars-CoV-2 wird bleiben, selbst wenn einmal der Großteil der Weltbevölkerung geimpft sein sollte - davon geht inzwischen die Mehrheit der Experten aus.

Die viel erwähnte Herdenimmunität ändert daran nichts. Sie bedeutet, dass große Infektionswellen unwahrscheinlich werden, nicht aber, dass das Virus verschwindet. Dem Schweizer Online-Magazin „Republik“ sagte der Charité-Virologe Christian Drosten kürzlich: „Das war von Anfang an ein Missverständnis, wenn man das so aufgefasst hat, dass Herdenimmunität bedeutet: 70 Prozent werden immun - egal jetzt, ob durch Impfung oder Infektion -, und die restlichen 30 Prozent werden ab dann keinen Kontakt mehr mit dem Virus haben.“

Unwahrscheinlich wird ein Verschwinden auch durch das Auftreten immer neuer Varianten. Wichtig wird es darum sein, die Verbreitung bekannter und neu auftauchender Mutanten dauerhaft zu überwachen - zum einen, um Impfstoffe anpassen zu können, und zum anderen, um beginnende größere Ausbreitungswellen früh zu bemerken.

Da es sich um ein globales Problem handle, sei eine internationale Struktur nötig, erklärte Isabella Eckerle, Leiterin der Forschungsgruppe Emerging Viruses an der Universität Genf. „Besonders jene Regionen, in denen der Zugang zu Impfstoffen limitiert ist und die noch lange auf eine Durchimpfung der Bevölkerung warten müssen und in denen gleichzeitig weitgehend unkontrollierte Viruszirkulation stattfindet, stellen Risikogebiete für neue Varianten dar.“ In die Überwachung müssten auch bestimmte Nutz- und Wildtierpopulationen eingeschlossen werden.

Ein Vorbild könne das Influenza-Überwachungssystem für die jährlichen Grippewellen sein, betonte Richard Neher, Leiter der Forschungsgruppe Evolution von Viren und Bakterien am Biozentrum der Universität Basel. „Hier besteht seit Jahren ein globales Netzwerk, das Influenzaviren sammelt und Inzidenzen misst.“ Alle sechs Monate gebe es eine Empfehlung für die Zusammensetzung des Grippe-Impfstoffs. Auch bei Covid-19 werde vermutlich eine regelmäßige Aktualisierung der Impfstoffe nötig sein.

Der momentane Stand sei, dass die verfügbaren Impfstoffe gegen Varianten wie Alpha und Delta in Bezug auf Ansteckungen etwas weniger wirksam sind, gegen sehr schwere Verläufe aber weiterhin sehr gut schützen, erklärte Annelies Wilder-Smith, Professorin für neu auftretende Infektionskrankheiten an der London School of Hygiene and Tropical Medicine.

„Da die Senkung der Sterblichkeitsrate das wichtigste Ziel der öffentlichen Gesundheit in der derzeitigen Phase der Pandemie ist, sollte der Schwerpunkt weiterhin darauf liegen, einen größeren Anteil der Bevölkerung rasch zu impfen, anstatt Auffrischungsdosen bereitzustellen.“ Dies sei umso wichtiger, als die Welt nicht einmal über genügend Impfstoffe verfüge, um jedem auch nur eine erste Dosis zu verabreichen, so Wilder-Smith. Eine rasche Durchimpfung der Bevölkerung sei zudem die beste Strategie, um die Entwicklung von bedenklichen Varianten zu reduzieren.

„Global ist die wichtigste Maßnahme die möglichst schnelle und breite Durchimpfung, so dass dem Virus weniger Gelegenheit gegeben wird, durch evolutionären Druck neue Varianten entstehen zu lassen“, betonte auch Isabella Eckerle. Es scheine erfreulicherweise so zu sein, dass bei den Varianten oft die gleichen Mutationen entstünden - das Virus habe womöglich nur ein begrenztes Repertoire an Mutationen, um sich besser anzupassen. „Wenn es zeitnah auch Impfstoffe gegen Varianten geben wird, die diese Mutationen abdecken, könnte sich ebenso eine recht stabile Situation einstellen, in der das Auftreten von immer weiteren, neuen Varianten ausgebremst wird.“

Sind vor allem die Gruppen mit hohem Risiko, schwer zu erkranken, weitgehend durchgeimpft, bedeutet das auch Entlastung für die Kliniken - und ein Ende „pandemischen Denkens“, wie der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN), Christian Karagiannidis, sagte. Künftig werde Covid-19 eine Erkrankung des Klinikalltags werden und den Schrecken einer in Wellen verlaufenden Pandemie verlieren - man gehe „in eine chronische Phase“ über.

© dpa-infocom, dpa:210616-99-09666/6

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